Seit Monaten warte ich auf ein paar regnerische Tage, mein Kalbsfond ist alle. Kalbsfond einkochen ist keine angenehme Arbeit in einer warmen Dachklause im Sommer. Vergeblich.
Kalbsfond stelle ich seit 2007 nach meinem alten Rezept her (siehe hier). Inzwischen sind von Claudio und Arthurs Tochter längst Rezepturen eingestellt worden, die mir bedeutend besser gefallen. Den endgültigen Anstoss zum Umdenken gab mir aber die Doktorarbeit der norwegischen Wissenschaftlerin, Pia Snitkjær: Investigations of meat stock from a molecular gastronomy perspective. (gesehen bei Khymos). Hitze hin, Kalbsfond musste her.
Aus Pia Snitkjær’s 77-seitiger Doktorarbeit habe ich aus gastronomischer Perspektive folgende Schlussfolgerungen gezogen:
Die Arbeit birgt für den erfahrenen Fondskoch nicht viele Überraschungen, bestätigt aber verschiedene Vermutungen durch wissenschaftliche Experimente. Wie stark man einen Fond zu Glace aufkonzentriert, sagt allein noch nichts über den Geschmack des Endproduktes aus. Wird das Einkochen zu sehr beschleunigt, tritt ein rascher Verlust an volatilen Substanzen auf. Langsames Einkochen bei niedriger Hitze lässt dem Fond mehr Zeit zur Entwicklung neuer und stärkerer Aromen. Auf die kommts an. Chemische Reaktionen benötigen Zeit. Die Zunahme neuer und nicht-volatiler Verbindungen beruht nicht nur auf trivialer Aufkonzentrierung beim Einkochen, sondern wurde experimentell nachgewiesen. Allzulang einkochen geht aber wieder mit einer Verminderung des Geschmackes einher.
Eine weitere Erkenntnis ist, dass Wein und Fond zusammen reduziert werden sollten, das reduziert die Herbheit der Tannine, sehr wahrscheinlich durch Ausfällung unlöslicher Protein-Komplexe mit dem Tannin. Interessant ist auch das Ergebnis, dass der Unterschied in den Aromaprofilen zweier verschiedener Weine durch das Kochen teilweise aufgehoben wurde. Bei dem Wein haben die nicht-flüchtigen Bestandteile wie Zucker, Säure und Phenole einen grössern Einfluss auf das geschmackliche Endergebnis als die flüchtigen, duftig-fruchtigen Aromen.
Knochen Rösten
Beim Rösten der Knochen habe ich an meinem Vorgehen nichts geändert. Ich hacke die vom Metzger zerkleinerten Knochen zuhause mit einem dafür reservierten Holzhackerbeil kleiner. Je grösser die Oberfläche, desto mehr Röstaromen entstehen beim Bräunen.
Röstgemüse
früher habe ich das Wurzelgemüse ganz klassisch am Ende zu den Knochen gegeben, das Tomatenpüree kurz mitgeröstet, dann abgelöscht und die Knochen mehrfach mit Wasser/Wein glasiert. Der Röstprozess von Gemüse und Püree war dabei schwer zu kontrollieren. Etwas zuviel geröstet, und der Fond wurde bitter. Diesen Prozess mache ich nun völlig separat von den Knochen und gebe das abgekühlte Gemüse zum kalten Knochenansatz.
Knochen extrahieren
Hier sind sich Köche und Wissenschaftler einig. Die Knochen müssen in kaltem Wasser angesetzt werden. Das extrahiert besser und vermeidet vor allem Trübungen, da sich die Proteinpartikel zu grösseren Agglomeraten zusammenschliessen können. Vorausgesetzt, der Topf kommt nie und nimmer zum Kochen. Ideale Temperatur: 85-90°C, in der Mitte des Topfs gemessen. Zeitdauer: früher wurden die Fonds sehr lange extrahiert (Hotelküchen: >3 Tage, Escoffier: 15 h), heute tendiert man zu kürzeren Zeiten (ca. 5 h), da der Geschmack durch zu langes simmern abnimmt.
Aufkonzentrieren zur Glace
Da man bei dem langen, langsamen extrahieren Primäraromen verliert, ist das die Gelegenheit, wo man dem Ansatz wieder etwas Frische und zusätzliche Kraft beibringen kann. zB. durch Gemüse, Gewürze, Wein und, wie ich es gerne mache, durch Zusatz von wenig Wadenfleisch, kurz und kräftig angebraten.
Da Claudio in seinem Rezept alles intuitiv „richtig“ macht -Italiener können halt kochen- nahm ich sein Rezept als Vorlage.
Zutaten
800 g eher magere Kalbsknochen
300 g Kalbsschwanz
200 g Kalbsfuss
1 Elf. Olivenöl
80 g Karotten
80 g Schalotten
60 g Staudensellerie
50 g Peterliwurzel (gabs keine mehr, etwa ein Dutzend Peterlistengel verwendet)
30 g Lauch (manche mögen ihn nicht im Fond)
1 Elf. Tomatenmark
2 dl Rotwein
2 Lorbeerblätter
5 Liter Wasser
für das aufkonzentrieren zur Demi-Glace:
200 g Wadenfleisch, mit dem Messer kleingehackt
1 Zweig Thymian
nochmals 5 Petersilienstengel
5 zerdrückte schwarze Pimentkörner
3 zerdrückte Wacholderbeeren
250 ml Rotwein
50 ml Madeira (Sercial, halbtrocken)
Zubereitung
(1) Knochen mit dem Hackebeil wenn nötig zerkleinern.
(2) Knochen portionsweise mit einer Drahtkelle während 20-30 Sekunden in kochendes Salzwasser tauchen, dann unter fliessend kaltem Wasser Stück für Stück von Hand abreiben. Knochen abtropfen lassen, dann mit Küchenpapier abtrocknen.
(3) Knochen in einem rechteckigen, grossen Bräter im Backofen (ohne Fett) bei 240°C unter gelegentlichem Wenden dunkelbraun anrösten. Das dauert etwa ¾ bis 1 Stunde. Herausnehmen und erkalten lassen. Anschliessend 1 Stunde in den Kühlschrank stellen.
(4) Das Gemüse-Mirepoix in einem Elf. Olivenöl langsam, etwa 10 Minuten, anrösten. Die Schalotten dürfen aber nicht verbrennen. Dann das Tomatenmark dazu. 2 Minuten mitrösten: sobald ein angenehmes Röstaroma wahrnehmbar ist, mit kleinen Portionen des Rotweins ablöschen, jeweils unter Rühren einkochen, glacieren, dann vom Herd ziehen und vollständig erkalten lassen.
(5) In einem hohen Topf die eiskalten Knochen, das erkaltete, glacierte Gemüse und 5 Liter kaltes Wasser mischen und ganz langsam, ohne Rühren auf etwa 85 °C erwärmen.
(6) 10 Stunden leise simmern lassen. Nie kochen lassen.
(7) Durch ein Küchenvlies filtrieren und über Nacht im Kühlschrank kalt stellen. Anderntags den Fettdeckel abheben. Das meiste Fett bleibt im Vlies hängen.
Soweit der Basis-Kalbsfond. Etwa 3 Liter. Hier könnte man aufhören. Da Platz im Kühler Mangelware ist, empfiehlt es sich aber weiter zu arbeiten:
für die Demi-Glace:
Entweder den Basiskalbsfond auf etwa 1 Liter einkochen. Das allein ergibt schon ein gutes, tadelloses Resultat.
Oder zusammen mit 2-3 dl Rotwein auf 1 Liter einkochen. Andere nehmen mehr Rotwein. Ich will aber Kalbsfond, nicht Rotweinfond.
Oder wie oben erwähnt, peppe ich den Basiskalbsfond nochmals auf:
(8) Rinderwade in 5 mm Würfel schneiden. In einer heissen Pfanne in wenig Öl kurz anbraten. Den Bratfond mit Rotwein ablösen. Erkalten lassen.
(9) Das angebratene Fleisch mit dem Rotwein, dem Madeira, dem kalten Basis-Kalbsfond und den Gewürzen (keine Angst, am Schluss schmeckt man weder Thymian noch Wacholder heraus) langsam erwärmen und bei mittlerer Hitze langsam auf etwa 1 Liter einkochen (in 2 Stunden), durch ein Küchenvlies filtrieren, nochmals aufkochen und in Portionengefässe abfüllen. Einfrieren.
Zu gerne hätte ich einmal einen Versuch angesetzt, den Fond 4 Tage lang einzusimmern. Nicht mit Frau L., nicht in ihrer Küche, nicht auf ihrem Herd.